Die ECOS 2016 – die Europäische Schriftdolmetscherkonferenz, die alle zwei Jahre in unterschiedlichen europäischen Städten stattfindet – lud Ende August 2016 bei hochsommerlichem Ambiente nach Berlin ein. Gudrun Amtmann war vor Ort und vertrat Österreich als Repräsentantin der zertifizierten Schriftdolmetscherinnen.
Eröffnung
In der Stadtmission Berlin, in der Nähe des Hauptbahnhofs, tagten Schriftdolmetscher aus acht europäischen Ländern. Eröffnet und moderiert wurde die Veranstaltung von der charmanten Jessica Dietrich (DSB), die die Teilnehmer humorvoll durch das Programm führte.
Nach der Eröffnung folgten Grußworte von Jan Jawinski, Vorsitzender des Bundesverbandes der Schriftdolmetscher Deutschlands, und von Carlo Eugeni, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Komitees von Intersteno, per Videonachricht mit dem Hinweis auf die 2017 stattfindende „Intersteno“ in Berlin und von Marcel Bobeldijk, Präsident der European Federation of Hard of Hearing People (EFHOH) sowie die Vorstellung einer Untersuchung von IFHOH und WFD zum Schriftdolmetschen aus Nutzerperspektive von Marcel Bobeldijk.
Ärger war gestern!
Strategien für Vermeidung und Lösung von Konflikten mit Klienten, Kunden und Kollegen stellte Philipp Karch auf eindrucksvolle wie anschauliche Weise dar.
In fünf Schritten erreicht man seinen eigenen Ärger nach dem BIBER-Prinzip:
- Beobachtung einer Situation
- Interpretation
- Bewertung (Beurteilung)
- Emotion
- Reaktion
Im Vortrag wurde klar, dass man selbst zu 100 Prozent für seinen Ärger verantwortlich ist und das normalerweise auf Grund einer Fehlinterpretation, also Schritt 2. Man kehrt zurück zur Interpretation und unterstellt dem Urheber/Auslöser des eigenen Ärgers statt eines negativen ein positives Motiv.
Als Beispiel wurden kriechende Autofahrer genannt, die einen schlicht wahnsinnig machen oder Permanent-Zuspätkommer. Dem Autofahrer unterstellt man nicht Unfähigkeit, sondern z.B. Ortsunkenntnis, dem Zuspätkommer räumt man großzügig ein, dass er gerade mitten in einer wichtigen Arbeit war, die er wegen eines Gedankenblitzes weiterführen musste. Das zweite Beispiel löste natürlich Diskussionen aus, da kein Schriftdolmetscher von seinem Co-Dolmetscher im Stich gelassen werden möchte, der dann obendrein ein Setting durch sein zu spätes Erscheinen stört.
Es wurde gelernt, dass es Ausnahmen gibt. Und man darf sich ruhig Fragen stellen wie: Ist es unsere Reputation, wenn der Kollege sich ständig verspätet? Und man darf selbstverständlich mit dem Kollegen ein Gespräch führen, das Klärung schaffen soll.
Unter Berücksichtigung aller Punkte, die man gegen seinen eigenen Ärger ausrichten kann, war auf der letzten Folie – lange und zum Verinnerlichen – zu lesen: „Sorge (und Ärger) sind völlige Zeitverschwendung. Sie ändern nichts. Alles, was sie tun ist, Dir Deine Freude zu rauben und Dich ständig zu beschäftigen ohne dabei etwas zu tun.“
Resilienz – widerstandsfähig und flexibel den (Berufs-)Alltag meistern von Bele Irle
Dass sich unser Leben (in der westlichen Gesellschaft) vervielfacht hat, ist nichts Neues. Dass Menschen beginnen, unter den Folgen der exzessiven Lebensgeschwindigkeit zu leiden und davon krank werden, ist im Bewusstsein vieler angekommen. Wie jedoch soll man reagieren, um sich selbst vor den natürlichen Konsequenzen zu schützen?
Endstation Burn-out (dessen alarmierendstes Symptom Rückzug aus der Gesellschaft ist) gilt es zu vermeiden, um aus dem Teufelskreis – sollte man sich in ihm bereits befinden – auszubrechen.
Dafür beobachtet und analysiert man sich zunächst selbst mit dem Ziel, zu Ausgeglichenheit im täglichen Leben, Zufriedenheit, Kraft und Energie zu gelangen. Voraussetzungen dafür sind u.a., sich selbst gut zu behandeln, Selbstmanagement, seine Grenzen kennen und akzeptieren sowie allem voran: Bewegung, gute Ernährung und ausreichend Schlaf.
Der Frage, was uns Kraft gibt bzw. nimmt, wurde nachgegangen, was individuell und für jeden Menschen unterschiedlich ist.
- Was sind Herausforderungen in meinem Leben?
- Wodurch verliere ich Energie?
- Wer könnte mein Sparringpartner sein?
- Was sind meine nächsten Schritte?
Es wurde deutlich vermittelt, dass man Dinge, die nicht änderbar sind, „einfach“ bleiben lassen soll.
Regelmäßige Pausen sind unter Einbeziehung der Dinge, die uns persönlich Kraft geben, einzuhalten. Dazu gehört auch z.B., während des Tages von Zeit zu Zeit aktiv seine Sinne arbeiten zu lassen: sehen, hören, fühlen, reflektieren. Dies ist das Hauptwerkzeug für Selbstmanagement.
Weiters ist es wichtig, zwischen Ursache und Wirkung zu differenzieren sowie – und das ist eine der Schlüsselaussagen – sich vor automatischen Denkmustern zu schützen.
Ein Recht gegen das andere: ethische Entscheidungsfindungsprozesse bei Gebärdensprachdolmetschern – eine Tagebuchstudie
Die Referentin Lianne van Dijken aus den Niederlanden stellte ihre Studie vor, in welcher die Vorgehensweise von (Gebärdensprach)-dolmetschern analysiert wurde. Zehn Dolmetscher wurden gebeten, aus ihrer Erinnerung Dinge aufzuschreiben, in denen sie eine Entscheidung treffen mussten, die über die Aufgaben ihres Jobs hinausgehen, wodurch sie zusätzlich in das Geschehen vor Ort eingreifen.
Auch die Teilnehmer der ECOS wurden zu Beginn ersucht, eine Situation zu notieren, in der eine Entscheidungsfindung zu Reaktion/nicht Reaktion notwendig war. Überlegungen und diverse Konsequenzen, die abgewogen wurden, sollten ebenso festgehalten werden.
Durch eine Umfrage wurde der Ist-Stand unter den zehn Dolmetschern erhoben.
Im Anschluss mussten die Probanden über einen festgelegten Zeitraum Tagebuch über ihre tägliche Arbeitssituation führen, in der sie Entscheidungen treffen müssen. Darauf folgten mehrere Stunden Video- und Präsenztraining, die in solchen Situationen helfen sollten; die Wahrnehmung der Teilnehmer wurde geschärft.
Abermals wurden Tagebücher geführt. Auf Grundlage der nun vorliegenden Daten erfolgte die Auswertung.
Die meisten Probanden agierten nur geringfügig anders als vor dem Training. Die Entscheidungsfreudigkeit stieg ein wenig an, man merkte, dass man keinen großen Dilemmas während der Arbeit ausgesetzt ist. Interessant ist, dass sich die Wahrnehmung über das eigene Ich veränderte. Das manifestierte sich einerseits im Wording ihrer Aufzeichnungen (Ich-Form versus Dolmetscher-Form), was auf größere Nähe/Distanz schließen lässt. Auch das Wording dem Klienten gegenüber wurde geprüft, das ebenso differenziert wird. Es scheint auf den Dolmetscher eine Auswirkung zu haben, ob er seinen Klienten namentlich erwähnt oder ihn z.B. als Hörbeeinträchtigten betitelt.
Insgesamt haben die Probanden nach dem Training im Schnitt etwa ein Drittel mehr Wörter geschrieben, was darauf schließen lässt, dass sie reflektierter agierten.
Workshops
Die Teilnehmer der ECOS konnten aus unterschiedlichen Workshops wählen. Alle zu besuchen, war durch Überschneidungen nicht möglich, die Auswahl fiel nicht leicht.
Es gab die Möglichkeit, gewonnene Kenntnisse aus dem Resilienz-Vortrag zu vertiefen, sich über die Möglichkeiten von Schriftdolmetsch für Flüchtlinge informieren zu lassen oder auch Informationen über Schriftdolmetschen per Spracherkennung zu erwerben. Eine Schriftdolmetschart, die in Österreich von öffentlicher Seite nicht akzeptiert und daher auch nicht eingesetzt wird.
Velotype – die Tastatur aus den Niederlanden
Wim Gerbecks und Sander Pasveer aus den Niederlanden stellten ihr Produkt „Velotype“ vor, das man live ausprobieren konnte.
Velotype ist eine spezielle Tastatur, die schon in den 1938ern erfunden wurde und seit den 1983ern neu aufgelegt wurde. Vor einigen Jahren erfuhr Velotype von den beiden jungen Männern eine abermalige Neugestaltung unter Einbeziehung der heutigen modernen Technologien.
Diese Tastatur ist in zwei Handblöcke geteilt und ergonomisch geformt. Auf beiden Blöcken befinden sich z.T. dieselben Buchstaben. Tasten werden gleichzeitig gedrückt, um damit eine bestimmte Silbe erzeugen zu können. Um ebendiese Silben, die mit einem Leerzeichen voneinander getrennt sind, miteinander zu verbinden, drückt man eine weitere riesige Handballen-Taste – und die Wortteile werden zu einem Wort verbunden.
Was zunächst in der Theorie erörtert wurde, bestätigte sich in der Praxis: Durch den um ein Vielfaches geringeren Tastenwiderstand (15 Gramm. QWERTZ-Tastatur: 80 Gramm) werden Ermüdungserscheinungen hinausgezögert. Allerdings muss man sich daran gewöhnen, um nicht versehentlich eine Taste mehrfach anzuschlagen und viele ungewollte Silben zu produzieren, denn der Tastenwiderstand ist tatsächlich kaum spürbar.
In einem Lehrprogramm, das als Software mit der Tastatur geliefert wird, erlernt man selbstständig die Bedienung des Gerätes.
Die Hersteller veranschlagen einige Wochen, um die Grundbegriffe zu erlernen, etwa ein halbes Jahr, um beginnen zu können, mit der Tastatur kommerziell zu arbeiten und etwa ein Jahr, um zu einer ersten Perfektion zu gelangen. Die ZpM (Zeichen pro Minute) werden bei gutem Können höher als mit einer herkömmlichen Tastatur veranschlagt. Der Anschaffungspreis liegt bei € 1.500,–, Updates sind inkludiert. Für den deutschsprachigen Bereich wurden bisher nur ein bis zwei Geräte verkauft, die Erfahrungswerte sind daher außerordentlich gering. Velotype ist in 17 Sprachen verfügbar.
Fazit: Es wäre durchaus interessant, sich mit Velotype auseinanderzusetzen und die Bedienung zu erlernen. Die Frage ist, ob der Aufwand dafür steht und inwiefern bzw. in welchem Zeitrahmen die ZpM-Steigerung tatsächlich zu erzielen ist.
In den Niederlanden arbeiten die meisten SD mit dieser Tastatur. Bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen wurden die Kollegen intensiven Untersuchungen unterzogen, da das Flughafenpersonal mit den Geräten schlicht überfordert war.
ZAV – Technik des Weltrekordhalters für Schnellschreiben mit Computertastatur
Helena Zaviacic ist neunfache Weltrekordhalterin im Schnellschreiben mit Computertastatur nach der ZAV-Methode, die ihr Mann Jaroslav Zaviacic entwickelte und seither erfolgreich – mittlerweile als e-Learning-Schule – betreibt. Benannt ist die Methode nach Herrn Zaviacic: ZAV.
Zunächst wird Blind- und Schnellschreiben geübt. Ein Reigen aus hunderten vorgegebenen Trainingseinheiten muss durchlaufen werden, bevor man schließlich zur Übung Nr. 2.500 gelangt. Schafft man es bis dorthin, steigt man in die 3. Klasse, die Meisterklasse, auf. Ab nun wird – genau wie beim Schriftdolmetschen mittels der konventionellen Methode, derer sich die SD in Österreich bedienen – mit einem Kürzelsystem gearbeitet. Der große Unterschied liegt darin, dass die Kürzel nicht selbst erstellt werden, sondern ein vorgegebenes System benutzt wird. Zusätzlich zur Fingerfertigkeit kommt nun das Auswendiglernen.
Beeindruckend war die an die Theorie angeschlossene Schreibvorführung: Während Jaroslav einen Text in atemloser Geschwindigkeit vorlas, schrieb Helena, die unter höchst konzentrierter Spannung stand, mit. In drei Durchgängen von je einer Minute wurden die Workshop-Teilnehmer Zeuge, wie sie zwischen 800 und 1.200 Zeichen pro Minute (in tschechischer Sprache) produzierte. Die Frage, wie viel ZpM Helena über einen langen Zeitraum erzielen kann, beantwortete das Ehepaar mit 900. Eine beachtliche Leistung.
Für Österreichs SD ist die ZAV-Methode nicht realistisch umsetzbar, da es ein komplettes Umlernen des eigenen Kürzelsystems bedeuten würde, das unter Einbeziehung der eigenen synaptischen Gegebenheiten erstellt wurde.
Live-Übertitelung für Hörgeschädigte
Diesem vielversprechenden Thema widmete sich Nathalie Mälzer, Juniorprofessorin für „Transmediale Übersetzung“. In Kooperation mit dem Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte und dem Theaterhaus (beide Hildesheim) entwickelte sie ein inklusives Theaterprojekt.
Hierbei werden Sprache, Texte, Sätze und Satzfragmente in die Theatervorführung mittels Videoprojektionen eingebaut. Gleichzeitig wird selbstverständlich gesprochen und auch gebärdet. Ein Kunstwerk, das einer Mischung aus Schauspiel und Installation gleicht, entsteht.
Durch gezieltes Einsetzen von comicartigen Sprechblasen sowie dem Spiel von Schriftgrößen, Schriftstärken, Schriftfarben und Texthäufigkeit können Schreien, Flüstern, Lachen, Durcheinandersprechen u.v.m. simuliert und deutlich gemacht werden.
Das Projekt ist künstlerisch wertvoll, mit der Arbeit des Schriftdolmetschers hat es nur peripher zu tun, was sich auch im Zuge der Diskussionen zwischen Teilnehmern nach dem Workshop herausstellte.
Runder Tisch: sieben europäische Länder im Vergleich
Deutschland, Niederlande, Finnland, Norwegen Schweden, Österreich und die Schweiz stellten im Zuge eines runden Tisches ihre Arbeitsbedingungen und Vorgaben in den jeweiligen Ländern dar.
Hierbei zeigte sich, dass es zum Teil sehr große Unterschiede gibt.
In welchen Ländern wird für welche Leistungen wie viel bezahlt? Darf man sich des Buffets bei einer Veranstaltung bedienen oder nicht? Werden Protokolle an Klienten ausgehändigt oder nicht? Wenn ja, sind sie kostenpflichtig? Mit welcher Methode wird gearbeitet? Welche Methoden werden nicht akzeptiert und warum? Was sind Voraussetzungen, um zur Ausbildung zugelassen zu werden? Welche Schreibgeschwindigkeiten müssen erzielt werden? Wie schaut die Qualitätssicherung aus?
All diese Fragen wurden erörtert, wobei es oftmals Staunen auf der einen oder anderen Seite gab.
Generell kann festgehalten werden, dass Österreich im Ländervergleich gut abschneidet. Die qualitativen Anforderungen sind hoch und stimmen weitgehend mit jenen von Deutschland überein.
ECOS 2018
Die nächste Ecos wird im Jahr 2018 stattfinden, das ist klar. Hinter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, dass der Veranstaltungsort in Schweden sein wird. Wo auch immer die nächste ECOS stattfindet, Schreibbüro AMTMANN wird sicher wieder vertreten sein – und für jene, denen es bis dahin zu lang wird, gibt es immer noch die Möglichkeit, 2017 abermals ein paar Sommertage in Berlin bei der Intersteno (International Federation for Information and Communication Processing) zu verbringen.
Dank
Der Dank für die gelungene ECOS 2016 geht an das Organisationsteam und an die Vortragenden sowie Leiter der unterschiedlichen Workshops! Und auch an die vielen Kolleginnen und Kollegen aus den verschiedensten Ländern, die aufgeschlossen und informativ Anliegen und Fragen diskutierten und beantworteten.
Neben dem Hauptprogramm war die ECOS eine ebenso interessante wie erfolgreiche Veranstaltung!
Fotos: © Gudrun Amtmann, Berlin