Vom Pferde- über den Kuhstall bis in das Gehöft, über die Felder und am Bach entlang bis zum Misthaufen. Vom Lokalaugenschein bis ins Gericht.
Menschen mit Hörbeeinträchtigung können auch während der Pandemie Schriftdolmetscher/-innen für ihre akustische Barrierefreiheit anfordern, wofür das Gericht (je nach Verhandlungsart) normalerweise die Kosten übernimmt. Hier ein Einblick, wie ein solcher Tag für Schriftdolmteschende mit Ladung zum Gericht aussehen kann.
Auftakt
Kurzfristig wird zusätzlich zur Verhandlung ein Lokalaugenschein zeitig am Morgen anberaumt. Dies erfordert eine Nacht vor Ort. Mit der Ladung als Dolmetscherin: kein Problem!
Die außergewöhnliche Ausgestaltung des Hotels – vollflächiger Spiegel über dem Bett, nackte Frauen- und Männerskulpturen in allen Ecken und auf den Gängen, eine Meerjungfrau, welche die Glasplatte des Beistelltisches in meinem Zimmer trägt – beschert mir eine schlaflose Nacht. Die Vermutung kommt schnell – und ungerechtfertigt, wie sich herausstellen wird – auf, es könne ein Stundenhotel sein. Freunde raten mir, eine andere Unterkunft zu suchen. Eine Freundin bemerkt trocken, die Tischplatte solle besser von einem Mann getragen werden. Ich stimme zu und bleibe.
Zwei Rehe trollen sich nur ein kleines Stück, als sie mich während meines Abendspazierganges bemerken. Ein Feldhase gesellt sich zu ihnen. Danke Corona! Früher hätte ich diesen Tag nicht als besonders empfunden. Mit den seit über einem Jahr geltenden – wenn auch immer wieder wechselnden – Reisebeschränkungen ist jede Sekunde wertvoll und abenteuerlich!
Lokalaugenschein
„Sie zeigen uns heute, wie Kommunikation mit schwerhörigen Menschen funktioniert.“ Mit diesen Worten werde ich begrüßt. Heute wird das Equipment für „mobile Settings“ ausgeführt! Auf einem Tablet kann meine Kundin – ich nenne sie Lilli – mitlesen. Der Richteramtsanwärter trägt liebenswerterweise das Gerät. Ich arbeite auf meiner Tastatur, die auf meinem „Bauchladen“ liegt. Wir bilden ein untrennbares Triumvirat und bewegen uns während der Besichtigung mit dem gesetzlichen Coronaabstand immer in der Nähe des Hohen Rats, der Gegenpartei und den Parteienvertretern.
Lilli ist offensichtlich nicht gewohnt, mittels Schriftdolmetschung versorgt zu werden. Von Zeit zu Zeit zupfe ich sie, wie vereinbart, zart am Ärmel, um sie daran zu erinneren. Vor allem, wenn ihr „hinter ihrem Rücken“ Fragen gestellt werden, die sie schlicht und einfach nicht hören kann.
Für uns AMTMANN-Schriftdolmetschenden ist es eine Selbstverständlichkeit, unser Klientel immer, auch im Notfall, face-to-face und mit gut sichtbarem Lippenbild in der angemessenen Lautstärke anzusprechen.
Unser Weg führt uns in den Pferdestall. Zum Glück habe ich heute flache Schuhe angezogen! Der Kuhstall ist unser nächstes Ziel. Ich sehe den Jungrindern beim Wiederkäuen zu, während ich zuhöre, dolmetsche und meine städtische Kleidung den wunderbaren Landgeruch aufnimmt, der mir noch bis Wien Gesellschaft leisten wird.
Vorbei am Bach, über die Felder, bis zum Misthaufen. Dann werfen wir noch einen Blick ins Gehöft. Während all der Zeit spricht der Richter unentwegt in sein Diktiergerät. Lilli kommentiert manchmal, was er sagt, manchmal ist sie empört. Ich merke, wie sie sich an das Mitlesen und die Annehmlichkeit der Schriftdolmetschung gewöhnt und freue mich für sie.
So schaut inklusive Kommunikation aus!
Im Konvoi fahren wir zum Gericht.
Die Verhandlung
Nachdem die coronabedingte Sitzordnung festgelegt ist, beginnt die Verhandlung. Fragen werden gestellt. Vorwürfe erhoben. Tränen geweint. Spürbar ist die Angelegenheit für alle sehr belastend. Lilli sitzt neben mir. Sie löst ihre Augen nicht von meinem Bildschirm, nur fallweise schaut sie in den Gerichtssaal, scheinbar, um Stimmungen aus den Gesichtern abzulesen. Zwischendurch bedankt sie sich bei mir. Sie wirkt überwältigt! Wie schön!
Doppelfunktion
Befragt zum Sachverhalt, gibt Lilli Auskunft. Bloß: Jedesmal, wenn sie etwas sagt, folgt Ratlosigkeit und Stille im Saal. Niemand versteht sie. Verzweifelte Blicke huschen hin und her, bis sie auf mir zur Ruhe kommen.
„Können Sie übersetzen?“ fragt mich einer der Anwälte. Der Richter stimmt nickend zu.
In den vielen Jahren, die ich bereits als Schriftdolmetscherin arbeite, ist es das erste Mal, dass ich diese zusätzliche Dolmetschfunktion übernehme. Das gibt mir sehr zu denken. Per Definition zählt das nicht zu den Aufgaben von Schriftdolmetschenden. Dennoch: Wenn ich damit helfen kann, tu ich das jederzeit gerne! Ich denke: Auch das ist inklusive Kommunikation.
Interessant finde ich, wie gut man sich auf unterschiedliche Sprechweisen einhört. Ähnlich, wie man sich auf unterschiedliche Schriftbilder einliest. Der Tag hat mehr Klarheit in die Angelegenheit gebracht. Fortsetzung folgt.
Meinen Heimweg gestalte ich über Bundesstraßen, um möglichst viel Österreich im Vorbeifahren zu sehen. Schneegestöber, Sonnenschein, Regenfälle. Ich reflektiere den Tag. Und ich freue mich, dass wir AMTMANN-Schriftdolmetschenden unseren Kundinnen und Kunden eine so wertvolle Unterstützung sind.