ÜBERRASCHUNGEN ALS SCHRIFTDOLMETSCHER:IN MEISTERN

(c) Pixabay, Elefant im freien, ein Mädchen sitzt auf seinem Genick

Unvorhersehbare Situationen für Schriftdolmetscher:innen können vielfältig sein. Der Arbeitsplatz ist zu eng. Der Vortragende zu schnell. Der notwendige Stromanschluss nicht vorhanden. Was nun? Lesen Sie, welche Herausforderungen sich im Berufsalltag als Kommunikationsdienstleister:in beim Schriftdolmetschen stellen können.

Universitätsgebäude Wien, errichtet ab 1978

Der Vortragende, so wurde es vorangekündigt, spricht „extrem schnell“. Deswegen hat unsere Studentin Wunschschriftdolmetscher:innen bei dem Fördergeber beantragt, die mit dieser Geschwindigkeit zurechtkommen und trotz des Speeds einen stimmigen und korrekten Inhalt produzieren.

Noch ist der Hörsaal leer. Wir sind extra zeitig vor Ort. Die Situation, die wir vorfinden, ist für Schriftdolmetscher:innen denkbar ungeeignet. Die Bänke sind fix installiert und mit einem Fach ausgestattet, in das man kleine Utensilien und Bücher legen kann. Auch die Stühle sind auf einem Metallgestell fixiert, durch das sich diese nur um wenige Grad drehen nach links und rechts lassen. Zu wenig, um Handfreiheit unter dem Pult zu haben. Das Arbeiten ist somit für uns konventionelle Schriftdolmetscher:innen fast unmöglich. Die konventionelle Methode allerdings wird von User:innen bevorzugt (wie erst kürzlich wieder einmal in einem schriftlichen Austausch mir gegenüber unterstrichen wurde).

Überraschende Barrieren

Die erste Reihe ist auch hier zum Teil für Menschen mit Behinderungen reserviert. Die zwei Plätze mit mehr Bewegungsfreiheit sind für Rollstuhlfahrer:innen vorgesehen. Einer der beiden Plätze ist bereits besetzt, vom zweiten aus ist die freie Sicht auf den Professor durch eine Wand verstellt, was für uns Schriftdolmetscher:innen und die Studentin das Verstehen deutlich erschwert.

Eine weitere Barriere boykottiert unsere Arbeit: Unerwarteterweise gibt es keine Steckdosen. Bloß am Referent:innenpult finden sich ein paar wenige. Unser Verlängerungskabel wollen wir in diesem Fall nicht, einer Stolperfalle gleich, benutzen. Wir entscheiden uns, in den Pausen unsere Geräte aufzuladen.

Im Hörsaal finden sich bald ein paar hundert Studierende ein. Im Laufe der etwa vier Stunden entwickelt sich eine brütende, fast unerträgliche Hitze. Der Vortragende ist nicht schnell, er galoppiert durch die buchstabenreichen Welten der Chemie und Arzneimittel. Er spricht in Schachtelsätzen, von denen viele unvollständig, oft ohne Verb, im Raum verhallen.

Nach der ersten Einheit suchen wir mit dem schnellen Mann abermals das Gespräch. Er ist extrem kooperativ und aufgeschlossen, will uns helfen, wo es nur geht. Eines allerdings geht nicht: langsamer sprechen.

Eine Woche später

Schon über eine halbe Stunde vor Vorlesungsbeginn sind wir im Hörsaal. Ziemlich genau in der Mitte des Raumes entdecken wir zwischen den hunderten Sitzplätzen, dort, wo der Beamer installiert ist, eine Steckdosenleiste. Und einen kaputten Sessel. Was für ein Glück, hier könnte man stattdessen einen freistehenden Stuhl platzieren, das würde die notwendige Bewegungsfreiheit für die Hände sicherstellen. Der Professor erlaubt uns umgehend, für jede Einheit einen seiner Sessel hinauf ins Auditorium zu tragen und ihn für unsere Arbeit zu benutzen. Yes!

Zu früh gefreut. Die Akku-Anzeige des einen Laptops alarmiert uns: niedriger Akkustand. Wie das denn? Schnell zeigt sich: Eine der beiden Steckdosen ist defekt. Wir sharen die funktionierende Stromquelle.

Dritte Einheit

Diesmal ist ein Co-Schriftdolmetscher aus der Ferne  online zugeschaltet. Der Vortragende bekommt ein Headset, womit der Ton zu ihm übertragen wird. Auch hier muss sich das Setting erst einspielen, denn durch die FFP2-Maske muss der Redner sein Mikrofon anders platzieren, damit in dem Ort hunderte Kilometer entfernt der Ton klar ankommt. Dies regeln wir in der ersten Pause. Ab nun läuft alles „wie geschmiert“. Alle Herausforderungen sind gemeistert und die Arbeit geht zügig voran. Hitze und Geschwindigkeit bleiben uns erhalten.

Universitätsgebäude, errichtet ab 1908 

Für einen anderen Studenten schriftdolmetschen wir ebenfalls zum Thema Chemie auf einer anderen Universität. Vor der ersten Vorlesung sind wir bereits 20 Minuten früher vor dem historischen Universitätsgebäude mit den ebenso historischen Sälen. Bevor wir den Vorlesungssaal betreten können, muss das Gebäude die Studierenden der letzten Einheit freigeben. Durch die Eingangstüre passen gleichzeitig im besten Fall zwei Personen. Menschentrauben bilden sich. Das Nadelöhr „Eingangstüre“ ist verstopft.

Endlich sind wir drinnen. Die Bänke sind äußerst eng. Darüber hinaus gibt es nicht genug Sitzplätze für alle. Das Stimmengewirr der jungen Menschen übertönt das Knacken der altertümlichen Holzbänke. Studierende quetschen sich eng an eng. Auf den Bänken, auf den Fensterbänken, auf den Treppen, am Boden. Wir kauern zu dritt im Stiegenhaus. Zum Glück sind wir alle drei so sportlich, dass wir eineinhalb Stunden auf den Treppen sitzend ausharren – und arbeiten – können. Ohne Blick auf den Sprechenden, der in moderatem Tempo und sehr kurzweilig durch sein Fachgebiet führt. Und ohne die Präsentation zu sehen, die uns das Erfassen des Fachvokabulars erleichtert hätte.

Ein Poltern unterbricht die Vorlesung. Auf der Tribüne ist eine Studentin umgekippt. Sauerstoffmangel. Überhitzung. Vom Rednerpult erfolgen Anweisungen, wie mit dem Mädchen umzugehen sei, damit es ihr schnell wieder besser gehe.

Um besser mitlesen zu können, dreht der Student den Laptop, der auf dem Steinboden steht, noch ein Stück weiter zu sich. Ein winziges Steinchen schert zwischen Metall und Boden. Das zerstörerische Knirschen scheuert sich schmerzhaft durch Mark und Bein von uns Schriftdolmetscher:innen.

Freundliche Zusammenarbeit

Auf dieser Universität können wir unsere Arbeitssituation schneller auf unser aller Bedürfnisse anpassen. Ab der zweiten Einheit sind drei Sitzplätze nebeneinander für uns reserviert. Dauerhaft. Auch hier erfahren wir freundliche Zusammenarbeit und Unterstützung.

Was wir als Schriftdolmetscher:innen lernen – wenn wir es nicht von Haus aus schon als Fähigkeit mitbringen –, ist eine große Improvisationskraft und eine hochgradige Flexibilität zu entwickeln. Und eine Ruhe, um mit außergewöhnlichen Situationen professionell umgehen zu können. Aus dieser Ruhe schöpfen wir die Kraft zu der Geschwindigkeit und der Genauigkeit, mit der wir für unsere Kund:innen arbeiten. Gleichzeitig ist unser Ziel immer nur eines: akustische Barrierefreiheit für unsere Klient:innen in höchster Qualität.

Sichern auch Sie sich Ihren nächsten Termin!

 

Hinweis: Dieser Artikel ist auch in der Ausgabe 2/2023 des „Sprach-R-Ohr, Die österreichische Schwerhörigenzeitschrift“ erschienen. Herausgeber: ÖSB, Österreichischer Schwerhörigenbund DACHVERBAND